Chronik | um 1958 (Alter 70 Jahre)
Notiz: Der dritte Zweig, Max: (der Verfasser der Chronik) Der dritte Zweig, Max: (der Verfasser der Chronik)
trat am 20 Oktober 1887 in das irdisch Dasein. Er ahnte damals noch nicht was seinem Leben bevorsteht. Gerade an seinem Geburtstage fand auch er, wie der Erlöser keine rechte Herberge, denn das elterliche Wohnhaus stand zur Grundreparatur auf Stützen. Das Küchenabteil wurde in aller Eile mit Brettern abgeschlagen und die Schalung mit Säcken und Decken abgedichtet. Das hereingebrachte Stroh diente der Mutter und nach meiner Ankunft auch mir die erste Lagerstatt. Ob meines Dazwischentretens wurden die Instandsetzungsarbeiten mit dem größten Eifer weiter betrieben, denn der nordische Winter war im Anmarsch. Es ist mir noch recht erinnerlich, daß ich im etwa 3. Lebensjahre ein lackledernes Schürzchen trug damit ich beim Löffeln des Milchreises mich nicht zu sehr schmutzig mache und daß die Mutter ein Jahr später die ersterworbene Kuh auf den Hof brachte.
Seite 61
Selbst an die Beschaffenheit meiner Wiege reicht das Gedächtnis zurück. Mit großer Sehnsucht wartete ich auf meinen ersten Schulgang. Ich war der dritte im Bunde der frisch und munter am frühen Morgen den weiten Schulweg antrat. Obwohl der Winter manchmal recht strenge war und große Schneewehen den Straßenverkehr lahmlegten, ließ ich mich vom Schulgang nicht abhalten. Als 1896 am Wohnorte eine Schulklasse eingerichtet wurde, war für die Schüler der Gemeinde Suwehnen dem weiten Schulgang ein Ende gesetzt. 3 Jahre später, dem Jahre meines Schulabgangs wurde daselbst eine neue, massive, einklassige Volksschule gebaut, die im folgenden Jahre in Betrieb genommen wurde. 1901 wurde ich in der evangelisch lutherischen Kirche zu Kinten entsprechend dem Wunsch meiner Eltern im litauischen Gottesdienst eingesegnet. Ich war, als meine Eltern mich zu diesem Ehrentage vom Kopf bis zu den
Seite 62
Füßen neu einkleideten. Sogar ein par nagelneue Schuhe saßen an meinen Füßen. Es waren die ersten in meinem Leben, denn bis dahin habe ich stets Klumpen (Gänserümpfe) tragen müssen. Gleich nach der Konfirmation beteiligte ich mich am Schulneubau. In den Abendstunden erhielt ich vom damaligen Lehrer Petrautzki Fortbildungsstunden, weil ich ein großes Interesse zum lernen zeigte. In den 2 folgenden Sommern schloß ich mich der Schwester Marie als Dünen-Befestigungsarbeiter auf der Kurischen Nehrung an. Vom derzeitigen Forstbeamten der gleichzeitig die Aufsicht über die Befestigungsarbeiten hatte wurde ich für die Arbeiter und den dort stationierten Gefangenen als Postbote bestellt. So wanderte ich täglich von Perwelk nach Nidden, wo der Seebäderdampfer die Post von Memel brachte.
Mit 17 Jahren schloß ich mich einigen Reise-
Seite 63
arbeitern an die in Wilhelmshafen im Naßbetrieb unterzukommen dachten. Zu jener Zeit wurden auf der Kaiserlichen Werft einige neue Trockendocks ausgeschachtet. An dieser Arbeit war auch ich eine zeitlang beteiligt. Als meine heimatlichen Mitarbeiter einen gleichen Verdienst mißgönnten und bei der Bauleitung deswegen vorstellig wurden gab ich die Arbeit auf und fuhr nach Essen. Von der Arbeiterannahmestelle der Krupp'schen Gußstahlfabrik wurde ich als Hilfsarbeiter eingestellt. Nachdem ich seßhaft geworden war fiel mir auf wie die meisten meines Alters in bequemer Weise ihr Brot verdienten. Ich meldete mich krank und erreichte durch den Arzt eine Bescheinigung, daß ich nur zu leichten Arbeiten heranzuziehen bin. Ich durfte in den Werkbetrieben nach passenden Beschäftigungen Umschau halten. Es glückte mir in der Kanonenwerkstatt
Seite 64
als Hilfsarbeiter unterzukommen. Mit der Fertigstellung der Kanonen- Werkstatt IX siedelte ich dort über, wo ich bis zu meiner Einberufung zum Militärdienst verblieb. In den Jahren 1905 bis 1908 besuchte ich in den Abendstunden die Handelsschule ''Merkur'' und vervollkommte mich im kaufm. Rechnen und der Korrespondenz. Im Krupp'schen Bildungsverein erhielt ich in den Abendstunden stenografischen Unterricht und an den Sonntagen die Lehre im Projektions- und Maschinenzeichnen. Nach meiner Einberufung bei der damaligen kaiserlichen Marine hatte ich eine Vorprüfung zur Verwaltungslaufbahn abzulegen. Auf Grund der Prüfungsergebnisse wurde ich für ein halbes Jahr auf einem Schiff zur Information kommandiert. Ich kam auf ''L.M.L Prinz Heinrich'' der in Sonderburg als Artillerie-
Seite 65
schulschiff für die Ausbildung der angehenden Schiffs-Artillerieoffiziere lag. Nach Ablauf der 6 Monate wurde ich wieder der II. Matrosen-Division überwiesen, die mich bald dort der Werft-Division überwies. Von hier wurde ich für ein Jahr auf der Kaiserlichen Werft zur Ausbildung geschickt. 2 weitere Monate der Ausbildung genoß man im Artillerie-Depot. Nach Ablegung der Prüfung wurde ich dem kleinen Kreuzer ''Lübeck'' zugeteilt auf dem ich die letzte Zeit meiner Dienstjahre ableistete. Die Jahre nach der Entlassung aus dem Militärdienst half ich den Eltern in der Landwirtschaft. Im Jahre 1914 verfinsterte sich der politische Himmel, so daß mit einer kriegerischen Auseinandersetzung der Großmächte zu rechnen war. Die Landwirtschaft hatte die Roggenernte mit Ende Juli beendet und stand mitten in der Ernte des Sommergetreides als am Letzten des Monats July die Mobilmachung ausgerufen wurde.
Seite 66
Während ich mein Abendbrot einnahm kam der Bruder Johann eiligen Schrittes und gab mir die Mobilmachung bekannt. Ich begab mich zum Kirchdorf wo zahlreiche Menschen versammelt waren und heftig diskutiert wurde. Die Nacht verbrachte ich beim Bruder denn am folgenden Morgen fuhren all die Reservemannschaften zum Zuge nach Mestellen die sich am ersten Mobilmachungstage sich zu stellen hatten. Mein Befehl lautete auf Danzig. Als die Morgenröte anbrach passierten wir mit unserem Leiterwagen unter Absingen des Liedes ''Morgenrot, Morgenrot, leuchtet mir zum frühen Tod'' die Ortschaft Wietullen. Am dritten Aushebungstage wurde ich als Verwalter der dort außer Dienst gestellten Küstenpanzerschiffe zugeteilt. Ich sollte das Schiff ''Beowulf'' in Dienst stellen. Nach und nach wurde die Besatzung vollständig. Nach der Indienststellung dampften wir nach Wilhelmshafen. Hier erhielten wir die Order vor Borkum in Wachposition
Seite 67
zu gehen und den Vorpostenpunkt für die Nordsee zu übernehmen. Als aber die russischen Truppen in Memel einfielen fiel uns die Aufgabe zu dem Landheer zur Unterstützung nach Memel zu dampfen um die Eindringlinge wieder hinauszuwerfen. Leider trafen wir erst ein, als die Stadt schon gesäubert war. 1916, am Tage vor Ostern erhielten wir den Befehl nach Libau zu Hilfe des Landheeres auszulaufen. Von Libau operierten wir mit den Landsern zusammen. Als unsere Kesselanlage in die Brüche gegangen war, mußten wir nach Kiel in die Werft. Nach der Wiederherstellung wurde noch einige Zeit Vorpostendienst versehen und dann im Februar 1917 in Danzig wieder außer Dienst gestellt. Ich wurde nach Kiel beordert, auf Tropenfähigkeit untersucht und nach dem österreichischen Hauptkriegshafen Pula in Marsch gesetzt. Da ich von vornherein zur Bildung einer neuen U-Bootbasis in Cattaro an der Adria bestimmt war, sollte ich nur 4
Seite 68
Wochen zur Information über U-Boot-Verwaltung daselbst verbleiben. Als diese Zeit abgelaufen war bestieg ich ein U-Boot und begab mich zur neuen Dienststelle. In Cattaro nistete ich mich zunächst auf einen österreichischen Handelsdampfer ein der als Stützpunkt für unsere Boote diente. Bei der Weiterentwicklung wurde ein zweites Passagierschiff als Wohnschiff für die U-Boot-Offiziere eingestellt. Da der Handelsdampfer mit Mienen und Torpedos vollgestopft war erschien mir bei der dort vorherschenden Hitze nicht geheuer. Ich siedelte folgedessen auf das Wohnschiff über und richtete meine ::: im Rauchsalon II. Klasse ein während mein Schlafgemach eine Schiffskabine bildete. Ein Nervenzusammenbruch brachte mir einen 6 wöchigen Heimaturlaub ein. Cattaro habe ich nicht wiedergesehen. Meine nächste Order war den Oberverwalter vom Küstenbezirksamt Libau während seiner Krankenbehandlung zu vertreten und nach seiner Rückkehr
Seite 69
ein Küstenbezirksamt in Reval einzurichten. Das Arbeitsgebiet erstreckte sich in der Verwaltung der Hafenfahrzeuge, der Leuchtfeuer, der Feuerschiffe, der Nachrichtenstellen, des Be::::wesen in ::: und der erbeuteten Magazine auf der Werft. Im November 1918 hatten unsere Blaujacken gemeutert. Zunächst plünderten sie das Lebensmittellager, bemächtigten sich der von Petersburg eingetroffenen deutschen Handelsschiffe und fuhren eigenmächtig nach Hause. Damit war das allgemeine Signal zur Revolution gegeben und der Krieg 1914/18 entschieden.
Mit einem kleinen Paddeldampfer, der für die meuternden Matrosen wohl zu klein erschien bin ich zusammen mit dem Stab, der treu zum Vaterland stand heimwärts gedampft. Wir legten in der Danziger Werft an und sind ohne von der Truppe entlassen zu werden aus dem unseligen Kriege heimgekommen. Dabei waren die wildesten Gerüchte im Umlauf.
Seite 70
Im Winter des Jahres 1918 zu 1919 lernte ich die Halbschwester meiner Schwägerin (Bruders Frau) kennen. Das öftere Begegnen führte Pfingsten 1919 zur Verlobung und am 19. November des gleichen Jahres zur Eheschließung. Kurz vor der Hochzeit hatte ich mich im Hause meines Bruders niedergelassen und mich geschäftlich etabliert. Die Geschäftseröffnung fand jedoch erst nach der Eheschließung statt. Die Geschäfte wurden sodann bis zu unserer Flucht im Oktober 1944 fortgeführt. Nahezu ein Viertel Jahrhundert lebten wir daselbst in Freud und Leid. Sechs Kinder wurden uns geboren, von denen drei in oder bald nach der Geburt verstorben sind. Die Söhne Kurt und Ernst sowie die Tochter Gertrud sind uns erhalten geblieben. Als 1939 nach dem Anschluß des Memelgebietes an das Altreich auch alle wehrfähigen abkömmlichen Männer zum Kriegsdienst einberufen wurden, wurden mir zahlreiche Ämter übertragen. Neben das Standes- und das Schiedsamt mußte
Seite 71
ich auch die Geschäfte der Gemeindeverwaltung, des Amtsleiters, des amtlichen Wägers, des Schulverbandsvorstehers und des Rechners sowie den Vorsitz des Gemeindekirchenvorstehers übernehmen. Mit unserer Ausweisung begann auf der Flucht ein kummervolles Leben. Es ging von einem Lager zum anderen nirgends war man zu Hause. Sohn Ernst war im Juni Soldat geworden. Während Frau und Tochter am 7. Oktober 1944 per Motorboot über Heydekrug in Richtung Labiau abdampften, bin ich am 10. Oktober mit dem Segelkahn von Windenburg aus nachgefahren. Durch Zufall trafen wir uns im Lager einer Gutsschule bei Labiau. Die mitgeführten Personenstandesregister mit ihren Akten wurden bei dem Standesbeamten in Klein Reichen bei Labiau untergebracht. Nach einigen Tagen mußten wir mit einem Transportzug weiter, der uns nach Münsterberg, Kreis Heilsberg hinbrachte. Hier mußte ich Frau und Tochter im Stiche lassen und mich in den Reihen
Seite 72
des Volkssturms eingliedern. Also mußte ich zurück nach Labiau um in die Front eingewiesen zu werden. Beim ersten Lagerwirt war inzwischen die an Sohn Ernst gesandte Feldpost zurückgekommen mit dem Vermerk ''Gefallen für Grossdeutschland''. Ich erbat mir von der Dienststelle einen 3 wöchigen Urlaub, fuhr nach Münsterberg um meine Familie in Kenntnis zu setzen. Am folgenden Tage erging hier die Order zum Weitertransport. Diesmal ging es bis auf die Insel Rügen. Nach Ablauf meines Urlaubs besuchte ich auf dem Wege zur Ostfront meinen Sohn Kurt der infolge Gelbsucht-Erkrankung im Lazarett in Gotenhafen lag. Am gleichen Tage wurde auch das Lazarett nach Neustadt in Westpreußen verlegt. Nachdem ich von ihm am Krankentransportzug Abschied genommen hatte setzte ich meine Reise nach Labiau und Heinrichswalde in Ostpreußen fort, wo in der Nähe der Volkssturm seinen Stand hatte.
Seite 73
In einer verlassenen Kate hatten wir mit 4 Mann unser Quartier aufgeschlagen. Unser Leben war sehr eintönig obwohl wir mit Bunker- und Schützengraben bauen beschäftigt waren. Als die Aufklärungstätigkeit der Feinde immer größer wurde und die Front nur schwach besetzt war erging eines Tages im Februar der Befehl zum Rückmarsch und Bezug von neuen Stallungen. Bei diesem Tag- und Nachtmarsch habe ich mir einen Leistenbruch zugezogen und konnte nicht mehr weiter. Daraufhin wurde ich von der Truppe zum Krankenrevier entlassen. Ich schleppte mich bis Labiau. Von hier wurden wir mit einem Krankentransportzug über Königsberg, Braunsberg, Elbing bis nach Köslin transportiert, wo wir in der Schule Aufnahme fanden. Nach 2 Tagen wurden die Volkssturmmänner durch die dortige SS-Standarte in Schlawe in Pommern in die neue Front eingewiesen. Auf meine Krankmeldung
Seite 74
wurde ich nach Köslin zurück verwiesen. Da keine Dienststelle für mich mehr Verwendung hatte, durfte ich zu meiner Familie auf Rügen zurückkehren.
Im zweiten Insulanerjahr meldete sich der aus der engl. Gefangenschaft entlassenen Sohn Kurt, der bei einem Bauer in Holstein Dienst tat. Bald darauf war er zu seinem Cousin Hans gestoßen, der in der englischen Dienstgruppe in Hannover Dienst tat. Eines Tages sandte uns Hans ein Telegramm, daß der Sohn Kurt schwer erkrankt ist und wir bald kommen sollen. Einige Tage später begab ich mich auf Reisen, ging schwarz durch die Zonengrenze und erreichte ohne Schwierigkeit Hannover. Dort mußte ich feststellen, daß das Telegramm nur eine Vertauschung war und der Sohn wohlbehalten in die Stadt ausgegangen war. Von Hannover ging ich nach Uelzen im Lager und dann weiter nach Poggenhagen im Zeltlager und schließlich nach Hannover im Bahnhofsbunker.
Seite 75
Ich sollte in Hannover seßhaft werden, was mir nicht zusagte. Durch das Wohnungsamt bemühte ich mich in einem ländlichen Bezirk unterzukommen. Auf diese Weise gelang es mir in Badenfelde an der Weser unterzukommen. Nachdem ich bei Horstmann neben der Gärtnerei die Wohnung bezogen hatte benachrichtigte ich die Frau und Tochter auf Rügen, daß auch sie zusehen sollen nach dem Westen zu kommen. Die Tochter wurde einem Kindertransport angeschlossen und die Frau begab sich auf gut Glück auf Reisen. Die Frau traf ''Heilig Abend 1946''in Bodenfelde ein. Die Tochter dagegen traf erst über den Bahnhofsbunker Hannover im Februar 1947 bei uns ein. Was die Zukunft in ihrem Schoße birgt, weiß Gott allein. Er, der Wolken, Luft und Winden Lauf und Bahn gibt, der wird auch Wege finden wie wir unser Leben beschließen sollen.
Seite 76
Bildtitel: Max der Verfasser der Chronik, Aufnahme 1952 in Bodenfelde
Im Werden und Vergehen der Menschheit erfüllet der Spruch, daß mit des Geschickes Mächten kein ew'ger Bund zu flechten ist seine volle Wahrheit. Gott fügte es, daß wir 1946/47 als Flüchtlinge in Bodenfelde an der Weser uns wiederfanden. Die folgenden Jahre ließen uns jedoch erkennen, daß am Orte keine rechte Arbeits- somit auch keine Verdienstmöglichkeit bot. Zunächst bemühte sich der Sohn Kurt im Ruhrgebiet eine Arbeitsmöglichkeit zu finden. Es gelang ihm bei der engl. Dienstgruppe unterzukommen. Als Tochter Gertrud ihre Kaufm Lehre in Göttingen beendet hatte, fuhr sie im ersten
Seite 77
Sommer schon als Angestellte ihrer Lehrfirma in den Ferien zu ihrem Bruder nach dem Rheinland. Sie bemühte sich sofort um eine Anstellung als Stenokontoristin bei der Maschinenfabrik Robert Zapp in Hilden. Nach der Rückkehr kündigte sie ihre Arbeitsmöglichkeit und nahm die beworbene Stelle in Hilden an. Die Jahre gingen dahin. Als wir uns in Bodenfelde verwaist fühlten entschlossen wir uns Anfang des Jahres 1955 einen Antrag auf Ansiedelung nach dem Rheinland zu stellen um mit den Kindern zusammengeführt zu werden. Unserem Antrage wurde zugestimmt, so fügte es Gott, daß wir zum 1. Oktober 1957 nach Hilden in der Karnaperstraße 2 in eine Neubauwohnung umgesiedelt wurden. Wir nehmen an, daß diese Verpflanzung wohl die Letzte in unserem Leben sein wird, denn ich selbst habe in den ersten Wochen dort ::: ::: das biblische Alter von 70 Jahren erreicht.
Notiz: Meine Heimat (die Lage) Meine Heimat (die Lage)
Meine Heimat lag nicht im wonnigen Süden, wo man müssig ein wohliges Leben führen konnte, sondern sie lag im Nordosten unseres einstigen deutschen Vaterlandes. Es war ein Fleckchen Erde, unmittelbar am fischreichen kurischen Haff, wo an dessen Küste der Kiefernwald von Kinten rauschte und noch heute in den Ohren nachklingt.
Dort wo Haff und See sich Küssen
und die Dange nimmt im Haff ein Bad,
dort, wo Nehrung hat ihr Ende finden müssen,
da liegt Memel unsre Vaterstadt.
Wo die Atmath ihr getreues Kind gen Osten sendet
und die Heide trug dereinst ein Krug
wo die Sziesze sich im Bogen wendet
da liegt unser Kreisort Heydekrug.
Dort, wo Has' und Reh' am Waldesrand asen
und die Jäger liegen zielbereit mit Flinten,
ist der Ort, wo wir einst auf der Schulbank saßen,
nämlich, unser lieber Kurort Kinten.
Seite 101
Wo die Elche ziehen über Moor und Land
und der Storch sein Nest begründet
wo des Haffeswelle ziehet an den Strand
ist die Heimat, von der man heut' noch kündet.
Allda, wo du zuerst die Welt geschauet
und liebend sich die Mutter über deine Wiege neigte,
da, wo du auf die Zukunft hast gebauet
War deine Heimat, die für's Leben dir nicht reichte.
Die engere Heimat, das sogenannte „Memelgebiet“ wurde nach dem ersten Weltkrieg (1914/18) gemäß dem Versailler Diktat gegen den Willen der Bevölkerung vom deutschen Reiche abgetrennt und zur Verfügung der alliierten Mächte gestellt. Am 12.2.1920 verließen die letzten deutschen Truppen das abgetrennte Gebiet. Am 14.2.1920 erhielt das Land eine französische Besatzung und einen französischen Guverneur (Odry). Das Memelgebiet sollte nach dem Danziger Muster ein Freistaat werden und sollte 1923 in Kraft treten. Dieser Durchführung kam der litauische Staat zuvor.
Seite 102
Er hatte mehrere Regimenter in Zivil gekleidet und in das Memelgebiet entsand. Die kleine französische Besatzung und die memelländische Polizei mußten der Übermacht weichen. Die Alliierten dachten damals nicht daran einem gewonnenen Krieg noch Soldaten für ein unbedeutendes Gebiet zu opfern. Sie zogen die Besatzungstruppe zurück und verliehen dem Memelgebiet eine Autonomie. Am 8.4.1924 hat der Völkerbundrat die Memel-Konvention verabschiedet.
Das Memelgebiet bestand aus dem Stadt- und Landkreis Memel, dem Kreise Heydekrug und dem neubegründeten Kreise Pogegen.
Im Osten sowie Norden war er von dem litauischen Staate begrenzt. Die Westgrenze bildete bis zwischen Nidden und Pillkoppen die Kurische Nehrung. Im Süden begrenzte der Memelstrom das abgetrennte Gebiet mit den deutschen Ostprovinzen.
Memel
lag im nördlichen Teil des Gebietes, sie ist eine alte See- und Handelsstadt und wurde im letzten Weltkriege (1939/45) zu 40% zerstört.
Seite 103
Im Jahre 1807 hat sich während eines Krieges die Königin Louise in dieser Stadt flüchten müssen. Sie wohnte damals in der Börse an der Dange. Die Stadt hat nur wenig Industrie aufzuweisen. Außer der Zellulose- und der Textilindustrie war die vom Litauer ausgebaute Bacon(?)fabrik nennenswert. Vorzeiten gab es auf der Schmelz, dem Vorort von Memel zahlreiche Wind-, später Dampfsägewerke, worüber an einer anderen Stelle noch gesagt werden wird.
Heydekrug
ist der zweitgrößte Ort des Gebietes. Er verdankt seinen Namen dem „Krug auf der Heide“. Er liegt an einem Nebenstrom der Atmath, die Sziesze. Die Heydekruger Wochenmärkte zählten von jeher zu den größten Ostpreußens. Fischer der Nehrung landeten mit ihren Fängen an. Gemüsehändler aus weiter Umgebung, alle wußten hier ihre Ware abzusetzen. Einige Kilometer von Heydekrug liegt die Ortschaft Werden, sie beherbergt die älteste Kirche des Memelgebietes. In der Nähe liegt auch
Seite 104
das Gut „Matzicken“, wo der Dichter Hermann Sudermann geboren wurde. Seinem Gedenken war in Heydekrug ein Denkmal gesetzt.
Prökuls
war ein Marktflecken. Hier hat der Dichter Ernst Wiechert gelebt. Er war daselbst Amtsrichter. Von ihm weiß man, daß er auch litauische Geschichten geschrieben hat.
In entgegengesetzter Richtung kommt man von Heydekrug vorbei an das Bismarker-Moor über das Rupkaloer Moor nach
Russ.
Dort ist die memelländische Heimatdichterin Charlotta Keysen geboren. Russ galt bis zu Beginn der Dampfschiffahrt als bedeutender Umschlageplatz für die damalige Holzflößerei.
Wenden wir uns von Heydekrug dem Westen zu, so kommen wir nach einem 19 km Marsch über das Großaugstumaler-Moor und dem Nebenfluß der Atmath - der Minge - nach
Kinten
und dem kurischen Haff. Hier lag seit dem Jahre 1919 bis zur Austreibung (dem 10. Oktober 1944) meine Wirkungsstätte. Kinten liegt unmittelbar an einem ausgedehnten Nadelwald und dem Haff. Wegen der reinen und ozonhaltigen Luft wurde der Kurort Kinten von Erholungsbedürftigen und Sommerfrischlern mit Vorliebe aufgesucht. Im Walde bot der Ort ausgedehnte Wanderungen und der Haffstrand mit seinem saftigen und frischen grün frohe Rast und Ruhestatt. Das Haff lud wiederum zum erfrischenden Bade. Daselbst sorgte eine Strandhalle auch für das leibliche Wohl. Der Ort hatte mit seinen nahezu 1000 Einwohnern außer einer Kirche ein geräumiges neuerbautes Gemeindehaus, ein 3 klassige Volksschule, 3 Gasthäuser, 1 Drogerie und mehrere Gemischtwarengeschäfte aufzuweisen. 2 Bäckereien und 2 Fleischwarengeschäfte deckten den Ort und die Umgebung mit dem notwendigen Bedarf.
Am Orte hatte auch der Amtsvorsteher seinen Sitz.
Seite 106
Zu seinem Bereich gehörten die Gemeinden
Kinten Prätzmen
Minge Kischken
Suwehnen Pauern
Feilenhof Michelsakuten
Windenburg Matzken
Wabbeln Lampsaten
Etwa 6 km von Kinten liegt in südlicher Richtung der Sagen umwobene Ort
Windenburg
Hier ergießen sich die Atmath, Pokallus und Varuss in das Haff und führen im Frühjahr, besonders bei der Schneeschmelze Hochwasser. Zur Zeit unserer Ahnen soll Windenburg nur einen Steinwurf weit von Nidden auf der Nehrung gewesen sein. Auf dieser Landzuge soll die erste Kirche für die umliegenden Dörfer gestanden haben. Die Sage erzählt, daß Strandriesin „Nehringa“ diese schmale Rinne zwischen dem Festland und der Nehrung mit den Sandmassen ihrer großen Schürze zuschütten wollte.
Seite 107
Eine Sturmflut aus Südwest hat in einer Frühjahrsnacht die ganze Landzunge mit samt der Kirche fortgespült. Die Stelle, wo das Gotteshaus gestanden hat, wird nach heute von Fischern mit „Steinbank“ bezeichnet, weil sonst nirgens im Haffgewässer Steine zu finden sind. In der Nachfolge errichteten damals die beteiligten Fischer und Bauern ein Holzkirchlein auf der heutigen Windenburger Ecke. Die noch immer gefährdete Ecke wurde von Regierungsseite mit schweren Kopfsteinen befestigt. Da besonders zur Nachtzeit die Umschiffung der Ecke mit großer Gefahr verbunden war, wurde unmittelbar auf der befestigten Ecke ein Leuchtturm errichtet, der nun seit Jahrhundert den Schiffern und Fischern den Weg weist. Der Ort Windenburg verdankt seinen Namen den dort vorherschenden Winden und der damaligen Burg des deutschen Ritterordens. Mächtige Eichenbäume aus früheren Jahrhunderten waren noch im 18. Jahrhundert Zeugen der heidnischen Priester, die hier ihre Götter anbeteten
Seite 108
und ihnen ihre Opfer darbrachten. An dieser Stellt hatte die Holzkirche ihren Platz gefunden. Der damalige Pfarrer erhielt nur 30 Thaler Jahresgehalt. Da er mit diesem Sold seine Familie nicht durchbringen konnte, war er gezwungen als Fischergeselle mit den Fischern aufs Haff zu gehen. Das Holzkirchlein konnte der herben Witterung nicht lange Stand halten. Eine alte Radierung (die ich der Heimatchronik beigefügt hatte) zeigte, wie sie noch unter manigfachen Stützen stand, ist vor etwa 300 Jahren einem Südweststurm zum Opfer gefallen. Die Fundamente zeugen neben der Gastwirtschaft Beek noch heute im Umriss des einstigen Gotteshauses. Nach dem Zerfall dieses Gebäudes stand die sich bedeutend entwickelte Kirchengemeinde abermals ohne der Stätte der Anbetung. Bei der Beratung um den Neubau der Kirche entspann sich unter den Bauern der Gemeinden Windenburg, Sturmen, Feilenhof, Minge, Blaszen und Suwehnen einerseits und den Gemeinden Pawiln, Szauken, Kinten, Ogeln, Bliematzen, Prätzmen,
Seite 109
Glaitzen, Kischken, Raudszen, Pauern, Szienen, Michelsakuten, Lamsaten, Klumben, Wabbeln und Rugeln andererseits ein Streit weil die Windenburger Gruppe den Neubau daselbst durchgeführt haben wollte, wohingegen die andere Gruppe im Mittelpunkt des Kirchspiels, nämlich in Kinten erstellt zu sehen wünschten. Bei einer weiteren Beratungsversammlung soll die Windenburger Gruppe gegen die andern mit Heugabeln, Dreschflegeln und Sensen vorgegangen sein um sie für ihre Seite gefügig zu machen. Als diese Auseinandersetzung zu Ohren der Behörden kam, griff sie ein, so daß bei der darauf erfolgten Abstimmung die Kintener Gruppe siegte. Dabei mußte die Gemeinde Minge sich verpflichten die Kirchgänger sonntäglich zum Gottesdienst und zurück zu befördern. Den Gemeinden Suwehnen, Stankischken, Feilenhof, Kinten und Blaszen wurde die Verpflichtung auferlegt, den Kiesweg zwischen Minge und Blaszen in einem befahrbaren Zustand zu erhalten.
Seite 110
Das Baujahr des Kirchen-Neubaus in Kinten steht allerdings nicht fest, da keinerlei Akten die Kirchengemeinde darüber aufzuweisen hatte. Es muß aber in den ersten Jahren des 17. Jahrhunderts gewesen sein. Mit dem Kirchen-Neubau wurde damals auch gleich eine 2 klasssige Kirchschule erbaut, die heute um eine Klasse erweitert ist. Während das Gotteshaus aus Ziegelsteinen ohne Türme(?) errichtet wurde, wurde für den Schulneubau Lehm verwendet.
Zwischen den Gemeinden Kinten und Windenburg lag das damalige Rittergut
Feilenhof,
daß dem damaligen Regierungsrat und Fischmeister Beerbohm gehörte. Er war auch Landtagsabgeordneter. Sein Besitztum erstreckte sich von Sturmen bis in die Gemeinde Kinten, das ganze Wiesengelände der Krakerorter Bank bis zur Gemeinde Rugeln und dem Augstumaler Moor bis unweit Heydekrug. Zur Zeit unserer Austreibung (Okt. 1944) war aus dem
Seite 111
Rittergut nur noch ein Bauerngut geblieben. Seine Nachfolger Kölbe und Wachsmuth hatten parzelliert und in hunderten von Trennstücken an bäuerliche Anlieger verkauft, so entstand auch die Gemeinde Feilenhof in der das einstige Rittergut heute mit...(Rest nicht mehr lesbar, da Karte darüber kopiert)
Notiz: Die Kultur des Memelgebietes Die Kultur des Memelgebietes
Die Bevölkerung des Gebietes, die als Grenzvolk aus verschiedenen Urstämmen sich zusammen setzte lebte in Frieden und Eintracht miteinander. Aus den Deutschen, Russen, Schalauern und Salzburgern erwuchs ein der Klima anpassendes hartes aber folgsames Geschlecht. Der aus den östlichen Gebieten stammende Volksteil hatte die litauische Sprache beibehalten, ja, sie wurde von der deutschen Regierung sogar gefördert, das geht eindeutig daraus hervor, als die russische Regierung ihre Ostprovinz Litauen sich selbst überlassen hatte, wurde dieser Volksteil mit den in Königsberg ::: hergestellten Erbauungsbüchern versorgt. Zur Verbreitung der Tagesnachrichten sorgten eine Tilsiter Zeitung und das in Memel erscheinende „Memeler Dampfboot“ in litauischer Sprache für Erhaltung der litauischen Kultur. Der aus dem Süden vermischte Volksteil hat die deutsche Sprache beibehalten. Der litauische Volksstamm, wiewohl er seine Eigenart hatte, stand fest und treu zum
Seite 113
deutschen Volkstum, das beweisen allen die Wahlgänge zum memelländischen Landtag wo die Litauer nur soviel Sitze erhielten als sie unberechtigterweise Litauer von Jenseits der Grenze einzig und allein zu diesem Zwecke ihre Wähler eingeschleußt hatten. Die Bevölkerung des Memelgebietes beschäftigte sich hauptsächlich mit Ackerbau und Viehzucht. Die ::: an der Haffküste betrieben im Nebenberuf die Fischerei. An Handwerker mangelte es im Gebiete nicht. Jede Berufsgruppe war vertreten.
Die Kultur hat sich im Gebiete nur schleppend entwickelt, weil die Grenzvölker, wie Litauen, Kuren und Letten gegen dem deutschen Reiche mit der Kultur ins Hintertreffen geblieben waren und die Bevölkerung dem litauischen Staate angeschlossen wurde.
Durch den überaus schlechten Absatz der landwirtschaftlichen Produkte während der Litauerherschaft und den überaus hohen Einfuhrzöllen für landwirtschaftliche Maschinen und Kunstdünger
Seite 114
ging die Entwicklung immer weiter zurück. Der Schulunterricht wurde zwar deutsch erteilt und die litauische Sprache als Lehrfach eingeführt.
Die Erlernung dieser Sprache ging vielfach unter dramatischen Umständen vor sich, da die Ãœberzahl der Schüler dieses Lehrfach ablehnten. Mehrfach kam es in der Kintener Schule soweit, daß die unterrichtende Lehrerin aus der Klasse flüchten mußte, da die Jungens des letzten Schuljahres eine drohende Haltung gegen sie einnahmen. Durch diese Umstände wurde die Allgemeinbildung gehemmt. Einen weiteren Tiefstand brachte der Krieg mit sich, wo fast alle Lehrkräfte zum Kriegsdienst einberufen wurden und die Kinder des letzten Schuljahres als Lehrkräfte fungierten. Als 1939 der Anschluß des Memelgebiets am Reich erfolgte, wurde man gewahr, welchen Vorsprung die deutsche Kultur im Altreich genommen hatte und wie rückständig wir in den 20 Jahren geworden waren. Obwohl das Gebiet große Anstrengungen machte, das Versäumte wieder aufzuholen ließ die entflammte Kriegsfurie nicht mehr zu die notwendigen Anschaffungen
Seite 115
zu machen, da die gesamten Industrien auf Kriegswirtschaft umgestellt wurde. Die Gottesdienste wurden in beiden Sprachen gehalten. Der Konfirmandenunterricht wurde nach Wunsch der Eltern erteilt.
Das ganze Memelgebiet hat nur wenig Industrie aufzuweisen. Die Bevölkerung schaffte in den Sommermonaten von 3 Uhr bis abends 20 Uhr, dabei gönnte es sich kaum eine Ruhepause. Einerseits war sie aus klimatischen Gründen gezwungen sich voll einzuspannen, weil schon mit Oktober die kalte Jahreszeit einsetzte und das Vieh eingestellt werden mußte. Demzufolge muß für Mensch und Tier der Vorrat für den langen Winter beschafft und sicher gestellt sein. Allgemein mußte man 8 Monate für die kalte und 4 für die warme Jahreszeit rechnen. Der Winter brachte in der Regel recht viele Schneemassen mit sich und auch Frost bis zu 40°. Dem hingegen war der Sommer meist recht warm, so daß die Frucht in den wenigen Monaten zur Reife gelangte.
Seite 116
Während an der Haffküste Schwemmland bis zur Schwarzen Muttererde vorherschte, wies der innere Gebietsteil Mergel, Lehm und Schlickboden auf. Einen großen Teil der Bodenfläche nahmen die Forsten und die Moore ein. Nennenswert sind: die Jura Forst, die Uszkarter Forst, die Vorkaiter Forst, die Bundelner Forst, die Kintener Forst und die Forst auf der kurischen Nehrung. Folgende Moore waren bekannt: das Bismark, das Rupkalver, das Gr. Angstumaler, das Kintener, das Stankischker, das Iszlusse und das Schwenzeler Moor.
Auf sandige Böden gediehen am besten der Winterroggen und die Kartoffel. Auf Mergel, Lehm oder Schlickboden gediehen alle Fruchtarten. Die Moore lieferten außer dem Brennmaterial (Torf) fast ausschließlich Kartoffeln. Diese Tatsache führte dazu, daß die Schweinezucht in großem Umfange betrieben wurde und vor dem ersten Weltkrieg zu einem Teil den Berliner Markt versorgte.
Seite 117
Der Fischreichtum des Haffes und der Flüsse war enorm und deckte nicht nur den Bedarf der eigenen Bevölkerung sondern deckte zum Teil noch den Tisch der Nachbarvölker, wie Litauen und die deutschen Ostprovinzen. Folgende Fischarten waren uns bekannt: Aale, Neunaugen, Hechte, Schleie, Rotaugen, Moränen, Quappen, Barse, Zante, Kaulbarse, Ukleie, Zehrten, Plötze, Gieben, Brassen, Bierfische, Welse, Störe, Lachs, große und kleine Stinte. Gefischt wurde mit Stell- und Zugnetzen, mit kleinen und großen Reußen (:::) sowie mit dem Kurrenkeitel. Die Nehrungsfischer, die über große Fahrzeuge (Flachbodenkähne) verfügten übten die Kurrenfischerei in den Herbstmonaten aus. Im Sommer stellten sie sich auf den Flundernfang in der Ostsee um. Im Winter dagegen, wurde sobald die Eisdecke trug mit der Untereisfischerei begonnen. In der Zubereitung der Fischmahlzeiten wird wohl kaum eine Frau eines anderen Gebietes ihr nachkommen.
Seite 118
Wer kannte nicht die auf Rost gebratene Zährte oder den gerösteten Neunaugen, den Brassen in Bier unter mancherlei Zutaten gekocht, den Barsch oder Zant mit Sahne und Butter in einem Topf auf Salzkartoffeln gekocht, oder den Kaulbarsch in Winter unter Zugabe von Gewürzen und Speckwürfeln im gußeisernen Topf im Ofen geschmort. Sondermahlzeiten für die feine Tafel lieferte der König der Fische der Aal.
Notiz: Die Wohnkultur des Memelländers Die Wohnkultur des Memelländers
Entsprechend des nordischen Klimas erhielten die Gebäude für Mensch und Tier eine festere und kälteschutzbietendere Bauweise als die Bauten im Westen und Süden unseres Vaterlandes. Die Bauern wählten als Umfassungswände Plankenholz. Nach gründlicher Ablagerung des Neubaues erhielten die Wände nach außen hin eine Bretterschalung, die gegen Witterungseinflüsse in der Regel konserviert wird. Die Innenseite der Wände wurde mit
Seite 119
Kalkputz versehen und dann tapeziert. Die Gebäude wurden fast ausschließlich nur mit Erdgeschoß erstellt und die Bedachung mit Schilfrohr eingedeckt, weil dieses Material gegen Frost und Hitze gleicher Weise isoliert. In solchen Räumen, die nach außenhin reichlich gesichert sind fühlt man sich auch bei strenger Kälte geborgen. Staatliche und Genossenschaftsbauten die massiv durchgeführt wurden erfolgten entsprechend ihrem Verwendungszweck in den Wandungen doppelte Luftschichten. Ebenso wurden massive Stallungen erbaut. Die Heuvorräte für den Winter allein des Kälteschutzes wegen über den Stallboden.
Jeder bewohnte Raum war entsprechend seiner Größe mit einem stabilen Kachelofen versehen. Die geräumige Küche erhielt in der Regel einen großen Kachelherd, der zugleich den Backofen, den Bratofen und den Warmwasserbehälter aufnahm. Die Küche diente lediglich für Zubereitung der Speisen und für wirtschaftliche Zwecke. Die Stallküche war zumeist der Waschküche angeschlossen.
Seite 120
Die Scheune und die Wagenremiesen und Maschinenschuppen erhielten die leichtere Bauweise, meist wohl Fachwerk verschalt. Wenn die Felder geräumt waren und der Winter seinen Einzug hielt, wurden die handwerklichen Arbeiten aufgenommen. Der erhitzte Ofen strahlte anheimelnde Wärme aus, so daß, ob schlimmsten winterlichen Wetters die Arbeit ohne Störung von statten ging. Während die Frauen und Mädchen sich mit Stricken, Sticken, Spinnen oder gar Weben sich beschäftigten ließen Männer ihren Flachsspinner surren mit dem sie die Schnüre zur Fertigung der Hanfleinen (Tauwerk) bereiteten, die später im Frühjahr im Freien nach Art der Seiler hergestellt wurden. Fischerfamilien flickten ihre Netze auf oder stellten neue her. Segel und das ganze Fanggerät wurde in Ordnung gebracht. Dabei gibt es im Winter ohnehin mehr Stallarbeit. Auch die Märkte sind zu beschicken, die Mühlenfahrten zu erledigen und das erstandene Holz aus dem Walde zu holen und zu zerkleinern.
Die Torfgewinnung
Wenn im Frühjahr die Saaten der Erde anvertraut sind, trägt sich der Bauer mit der Sorge um das Winterbrennwerk. Der kleine Holzvorrat ist für Anmachezwecke bestimmt. Den Hauptbedarf muß der Wiesenboden der fast ausschließlich aus festen Moorboden besteht liefern. Die Torfgewinnung wird fast immer maschinell betrieben. Die Torfgewinnung kann mit einer vertikalen Stechmaschine oder mit einem Pferde oder Motorantrieb Presser vorgenommen werden. Je nach der Witterung kann der Torf nach 14 Tagen vom Boden gelüftet (umgekantet) und nach weiteren 14 Tagen in kleinen Häufchen gebracht werden. Ist der obere Teil trocken, so wird er heim geführt und der verbleibende Teil in größeren Haufen zusammengebracht, die entweder kurz vor der Ernte oder während der Getreideernte abgefahren werden. Der Preßtorf wird als Brennmaterial vorgezogen, weil er denselben Heizwert oder noch besseren als Brikett hat.
Notiz: Der Memelstrom und die Memeler Sägewerke Der Memelstrom und die Memeler Sägewerke
Der nördlichste Strom unseres einstigen Vaterlandes war die Memel. Schon der Dichter Ernst Moritz Arndt hat im Deutschlandlied den Memelstrom als die Nordgrenze Deutschlands erwähnt. Dieser Strom entspringt im Guvernement Minsk in Russland und durchläuft dort waldreiche Gegenden. Seine Länge beträgt etwa 800 km. Vor etwa 200 Jahren hatten Kaufleute aus dem Memellande und von Übersee mit den dortigen Forstverwaltungsstellen riesige Holzeinkäufe abgeschlossen unter der Bedingung, daß dieses Holz bis nach Russ gebracht wird. Auf dem Wasserwege war das ja ein leichtes. Die Kieferstämme der dortigen Urwälder wurden meist von polnischen Volksstämmen auf der oberen Memel mit Stangen und Weidenruten zu schmalen Tafeln zusammengefügt und die Tafeln hintereinander zu einer Trift zusammengestellt. Die Flößer nannte man Dschimken. Auf jeder Trift wurde aus Moos eine Lagerbude gepflochten, worin sie übernachteten.
Seite 123
Am Ende der Trift mußte ein flach zugearbeiteter Stamm als Steuerruder dienen, der von 2-3 Mann bedient wurde. So wurden die Triften stromab bis nach Russ befördert. Hier ließen die Maklerfirmen diese Triften durch deutsche Flößer umarbeiten. So daß die Trift die doppelte Breite bekam. Außerdem wurden sie für den Weitertransport über das Haff mit Ketten verankert und mit Stahltrossen verzurrt. Da es zu damaliger Zeit noch kein Schleppdampfer gab wurden die Tristen durch den Atmathstrom in und durch das Haff nach Memel geleitet. Diese Transportart war jedoch bei ungünstiger Witterung, besonders im Herbst mit mancherlei Gefahr verbunden. Bei östlichen, besonders bei südöstlichen Winden ging es meist glatt von statten, weil der Seiten- oder Rückenwind ihre Fahrt förderte, denn die Triften wurden besonders im Haffgewässer mit Segeln angetrieben. Sobald der Herbst aus südwestlicher Richtung seine Kraft einsetzte, ging es meist schief. Die gefährdeste Stelle war
Seite 124
die Windenburger Ecke. Hier wurden bei südwest Stürmen fast immer die Triften zerschlagen, weil der Wind sie dann unter dem Festland drückte und in der Brandung auseinanderriß. Die Baumstämme landeten verstreut an der Küste als Strandgut. Nicht wenige Haffanlieger hielten bei solchen stürmischen Flößerfahrten Ausschau nach Strandgut, um die sich nicht wenige bereicherten. Normalerweise kamen die Triften, soweit sie nicht schon von Sägewerken in Russ, Wischwill oder Heydekrug zugeteilt waren zum sogenannten Holzhafen nach Memel, wo zu seiner Zeit etwa 20 Windsägemühlen im Vorort von Memel auf der Schmelz standen und die angelandeten Stämme zu Balken, Planken, Bohlen oder Bretter verarbeiteten.
Nach Fertigstellung des König-Wilhelm-Kanals (1873), der die Minge, den Nebenstrom der Atmath mit dem kurischen Haff bei Schmelz verbindet, wurden die Triften mit Manneskraft nach ihrem
Seite 125
Bestimmungsort gezogen. Die Flößer die außer ihren Proviant auch reichlich Alkohol mitführten waren bei ihren Zügen meist guter Stimmung. Nicht selten schallten ihre schwermütigen Lieder an stillen Sommerabenden bis weit in das Land hinein.
Um diese Zeit war auch der Memeler Hafen von Segelschiffen allerlei Tiep´s und aus aller Herren Länder belebt. Zahlreiche Kaufleute von Übersee beherbergte die Stadt und nicht wenige englische Familien wurden seßhaft: davon zeugt in Memel die englische Kirche, die die Engländer haben für ihre Leute erbauen lassen.
Die Schnittware wurde durch die Segelschiffe in zahlreiche europäische, zum größten Teil aber nach England verfrachtet.
Die Russer Spediteure haben jährlich für etwa 5 Millionen Mark Holz angekauft und im Handel umgesetzt. Als um das Jahr 1850 der Wind von der Dampfkraft abgelöst wurde, verschwand allmählig
Seite 126
die Romantik zu Wasser und zu Lande.
Windsägemühlen wurden von Dampfsägewerken, die Segelschiffe von großen eisernen Dampfkolossen abgelöst, die die Schnittware sicher und zuverlässig nach den Häfen oder Weltteile hinbrachten. Männer die die Triften nach Memel schleppten wurden arbeitslos oder mußten sich nach einer anderen Beschäftigung umsehen, denn vor diesen Holztriften wurden in Russ gescharterte Dampfschlepper gespannt, die das Holz an ihren Bestimmungsort brachten.
Dieser Holzhandel kam nicht nur den Handeltreibenden Kaufleuten zugute, sondern das ganze Gebiet hat seine Vorteile daraus gezogen. Nach dem ersten Weltkriege (1914/18) lebte der Holzhandel nicht wieder auf, weil sowohl Russland wie Polen mit dem deutschen Reich einen Kriegszustand nicht aufgaben. Das Wenige, das auf dem Bahnwege aus Litauen kam, vermochte nicht mehr die zur Untat verurteilten Sägewerke von Memel zum Aufblühen zu bringen.
Notiz: Die Ausübung der Fischerei im Memelgebiet Die Ausübung der Fischerei im Memelgebiet
An der Festlandküste des kurischen Haffes hatten sich Fischer angesiedelt, und zwar solche die dieses Geschäft gewerbemäßig betrieben und solche die nur für ihren Bedarf fischten. Die Kleinfischer besaßen auch nur kleine Segelfahrzeuge und übten diese Beruf mit den sogenannten kleinen Gezeuge aus. Zu diesem Gezeuge zählten sich die Staaknetze, das kleine Zugnetz und die kleinen Aalreusen. Zum großen Gezeuge gehörte das große Zugnetz, das Reitelnetz, die großen Fischreusen und für die Stromfischer besondere Neunaugenreusen. Mit den feinmaschigen ungegaderten Staaknetzen, die aneinandergebunden als eine stehende Wand ausgelegt wurden wurden Uklei mit den Silberschuppen gefangen. Die Schuppen dienten zur Herstellung von Perlmutterziergegenständen und Perlmutterknöpfen. Mit diesen Gezeuge durfte auch während der Fischschonzeit gefischt werden. Die Fänge waren minimal. Gegaderte Netze, die auch gewöhnlich größere Maschenweite haben durfte nur nach der Schonzeit verwendet wurden.
Seite 128
Die Aalschnurfischerei setzte im Frühjahr mit dem ersten Gewitter ein, denn dann verließen die Aale ihre Wintergründe. An den Aalschnüren wurde etwa alle 5 m ein Angelhaken mit Besteck (Köder) befestigt und die Schnur auf den Haffboden ausgelegt. Die Legung der Schnüre erfolgt meist im zickzack. Die Schnüre sind mehrere Kilometer lang. Aalreusen dagegen werden an der Küste im Schilfrohr gestellt und täglich kontrolliert und gelichtet. Außer Aale fangen viele Reusen auch Schleien und die Rotaugen. Mit den großen Fischreusen, die im tiefen Haff ausgespannt und die Enden mit ::: an eingerammte Stangen befestigt werden beschäftigen sich die kapitalkräftigen Fischer, weil sowohl das Gezeuge und die Fahrzeuge einen größeren Aufwand benötigen. Die Fischreusen werden wöchentlich ein- bis zweimal gelichtet.
Die Nehrungsfischer übten diesen Beruf in der Regel als Hauptberuf aus. Sie besaßen alle große, flachbödige wetterfeste
Seite 129
Fahrzeuge mit dem Kurenwimpel am Mast. Die Fischer sind eine Abstammung der Kurländer. Die kurische Sprache war auf der Nehrung bis in die Jetztzeit erhalten. Als ausgesprochene Fischdörfer auf der Nehrung galten Preil, Perwelk und Rositten sowie die Badeorte Schwarzort und Nidden und Pillkoppen. Über die Gezeuge und Fangabsätze ist bereits auf Seite 117 ausgeführt.
Erwähnenswert ist der Vorgang der Untereisfischerei. Auch hierbei unterscheiden die Fischer ein großes und ein kleines Zugnetz. Der Vorgang beider Netze ist etwa folgender: Am Fangort angekommen wird mit der Eisaxt ein dreieckiges Loch ausgehauen. Im Anfangsloch wurden etwa 25 m lange Stangen an deren Enden lange etwa 200 m lange ::: befestigt sind. Diese Stangen werden mit der Stangengabel mit samt den Tauen in den mit O markierten
Seite 130
Eislöchern vorangetrieben. Am andern Tauende ist die eine Seite des Netzes befestigt, so daß wenn die Stangen wieder am Ende sind hochgenommen werden und nun mit den Tauen die Netze, bei kleinen Netzen mit Manneskraft, bei großen mit der Schlittenwinde zum Hochziehloch gezogen werden. Es ist eine mühsame Arbeit die nicht immer gelohnt wird. Bei großem Frost gefrieren die Netze im Zusehen werden unbeweglich und brüchig. Mit dem kleinen Zugnetz werden meist Kaulbarse und mit dem großen Netz die verschiedensten Fischarten gefangen. Eine besondere Art des Fischfanges ist das Klappern. In diesem Falle bringen die Nehrungsfischer mittels der langen Stangen ihr stehendes Gezeuge, die gegaderten Staaknetze als eine Wand unter das Eis. Wenn das geschehen ist, wird unter die Eisdecke ein Brett geschoben, deren anderes Ende ein wenig über die Eisdecke hinausragt, darauf wird geklopft oder wie der Fischer sagt geklappert. Auf diesen Schall hin eilen die großen Stinte herbei und verfangen sich in den Netzen.
Der Eissport
Sobald der Winter seine Brücken gebaut hat, werden auch die Schlitten und Schlittschuhe, die Segelschlitten und Eisyachten aus der Rumpelkammer hervorgeholt. Für den Beginn des Eissportes ließ sich kein Termin festlegen, weil die Jahre verschieden ausfielen. Normalerweise konnte mit Ende November oder Anfang Dezember mit einer festen Eisdecke gerechnet werden, die dann fast immer bis im Monat März anhielt. Das kurische Haff etwa 100 km lang hat für jeden Sportler Bewegungsfreiheit geboten. Während die heranwachsende Jugend auf Schlittschuhen und dem Rodelschlitten auf dem Eise herumfummelten, war die reifere Jugend dabei einen Segelschlitten nach eigener Konstruktion herzustellen. Die einfachsten dieser Art liefen auf 3 Schlittschuhen. Alle Schlitten von der primitivsten Art bis zur modernen Eisyacht werden mit 3 Laufschienen versehen.
Seite 132
Die Seitenkufen die mit einer Planke oder Bohle verbunden werden sowie das Steuerruder sind die Träger der Laufschienen. Zwischen den Seitenwänden erhebt sich von der Mitte der Planke der Mast, der sowohl nach beiden Seiten wie nach dem Bug stramm gespannt wird. Die Eisyacht hat die Form eines Wasserbootes der Boden hat festen Belag. Die Seitenwände sind nur 25 bis 40 cm hoch, damit sie bei der Fortbewegung besonders bei Beiwindfahrten keinen Widerstand bilden. Die Besegelung ist verschieden. Während die Yachtschlitten nahezu die Segel der Yachtboote führen, richten sich die Jugendlichen nach den vorhandenen Boot- oder Kahnsegeln. Die modernen Eisfahrzeuge erreichen glatter Eisfläche und gutem Wind die Geschwindigkeit eines Schnellzuges. Selbst die einfachen Segelschlitten vermögen ein trabendes Schlittenfuhrwerk zu überholen. Wenn das Eis genügend Festigkeit hat, dann hieß es hinaus mit Sturmgebraus und: „Alle Flicker am Mast!“ da konnte noch so grimmige Kälte keinen vom Eissporte zurückhalten. Nachfolgend werden solche Eisboote durch ein par Skizzen dargestellt:
Selbst die kleinen trudelten mit ihren Rodelschlitten umher oder haben sich ein Eiskarusel von den größeren Brüdern erbauen lassen. An einem eingerammten festgefrorenen Pfahl wurde eine lange Stange am Pfahl drehbar befestigt, während am anderen Ende der Stange der Rodelschlitten oder mehrere angebunden wurden. So vergnügte sich die Jugend auf ihrer Art.
Seite 133
Aber auch die Schulkinder kamen auf ihre Kosten. Bei vorausschauender guter Witterung wurde vom Schulleiter für den folgenden Tag ein Schlittenausflug über das Haffeis nach einer benachbarten Schule angekündigt. Dabei wurde aufgetragen ein Rodelschlitten mit fester Leine und Butterbrot ist mitzubringen. Am folgenden Morgen stand vor dem Schulgebäude ein bespannter Spazierschlitten mit verschiedenen Glocken abfahrbereit. Es dauerte nicht lange und dann wurde gestartet. Der erste Rodelschlitten befestigte sich am Spazierschlitten und dann einer am andern bis 20 oder 30 Schlitten. Mit Sang und Klang ging es dem Haff hinunter. Da die Wege auf dem Lande nicht alle glatt sind gibt es dann des öfteren Krambulage; die aber gern in Kauf genommen wurden. Auf dem Haffeis, das keine Hindernisse mehr bietet geht es dann im Eiltempo dem Ziele zu. In der Nachbarschule wird eine Schneeballschlacht ausgetragen. Nach dem Verzehr der Butterbrote geht es dann wieder der Heimat zu.
Die Eiseinfuhr
In der Zweiten Hälfte des Winters, wenn die Sonne mit ihren wärmenden Strahlen den nahenden Frühling kündete, wurden die Gastwirte und die Fleischereibetriebe gemahnt, den Eisbedarf für den Sommer einzufahren. Zu diesem nassen Betriebe wurden 4 – 5 Mann beordert. Mit dem nötigen Werkzeug versehen wurden sie an den Bestimmungsort hingefahren. Der Eismeister haut zunächst ein Loch im Eise, dort führt er seine Brettschneidesäge hinein und zerteilt das Eis in Würfeln, die 2 Mann hantieren können. Die andern Männer fangen die zerteilten schwimmenden Würfel auf und bringen sie auf die Eisfläche. Diese Blöcke wurden mit mehreren Schlitten im Wechselgang vom Haff abgeholt. Im Eiskeller sind wiederum Männer beschäftigt, die Blöcke möglichst eng aneinander zu fügen bis der Bedarf gedeckt ist. Am Schluße der Einfuhr wird über das gepackte Eis Sagespäne geschüttet, damit die eingedrungene Wärme nicht sofort am Eise nagt.
Seite 135
Der Schaktarp
ist die Zeit, wo der normale Verkehr durch Überschwemmungen gehemmt wird. Der Übergang vom Herbst zum Winter brachte nicht soviel Hindernisse im Verkehr als der Winter zum Frühjahr. Wenn Tauwetter einsetzte und die Schneeschmelze durch warmen Regen begünstigt wurde, kamen gewaltige Wassermassen aus den Schneewäldern Russlands und Polens die Memel herunter und brachten das Eis der Flüsse zum Aufschwimmen und bei immer größer werdender Strömung in Bewegung. Bei fester Lage des Haffeises stauten sich die Eisschollen übereinander bis auf den Grund der Strommündungen, so daß das Druckwasser keinen freien Abfluß nach dem Haff hatte. Infolge des vorgeschobenen Riegels ergoßen sich die nachdrängenden Wassermassen auf das niedrigere Gelände, den Wiesen. Soweit das Auge reichte waren nur Wasserwiesen mit vereinzelten Inseln (bedrohten Ortschaften) zu sehen. Das war die Zeit des Schaktarps.
Seite 136
Eine von der Regierung in Gumbinnen nach Russ entsandte Kommission zur Behebung von Notständen, in den vom Wasser betroffenen Gebieten, telegrafierte eines Tages nach plötzlichem Einbruch des Schaktarps an ihre Dienststelle: „Rückkehr unmöglich, da Schaktarp nicht zuläßt“! Darauf erhielt die Kommission folgende Antwort: „Schaktarp ist zu verhaften“!
Die von dem Wasser eingeschlossenen Ortschaften haben zum Teil Wasser selbst in ihren Wohnungen und Ställen, so daß sie gezwungen sind auf den Boden zu flüchten und das Vieh im Stalle aufzubrücken. Der Verkehr vom Hause oder vom Stalle ist dann nur mit dem Kahne möglich. Schon allein aus diesem Grunde wird der Dung im Herbst im Stalle gelassen, damit das Vieh bei plötzlicher Überschwemmung einen gesicherten Stand hat. Bei besonders hoher Überschwemmung ist es vorgekommen, daß die Fluten die leicht gebauten Holzhäuser mit sich fortgerissen haben. Zu solchen Zeiten ist mehrmals vorgekommen, daß die Feuerwehr der Nachbarorte
Seite 137
alarmiert worden sind, die Leute von ihren Böden und das Vieh aus dem Wasser zu retten hatte.
Derartige Überschwemmungen haben immer ungeheuren Schaden angerichtet die ohne Regierungshilfe nicht beseitigt werden konnten. In Erkenntnis dieser Tatsache und zur Ersparung der hohen jährlichen Unkosten wurden in den letzten Jahren schon zur Herbstzeit zwei Eisbrecher in die Atmath-Mündung entsandt, die im Frühjahr, sobald sich das Wasser staute unter Dampf einsatzbereit lagen. Bei größerem Nachdruck des Wassers brachen sie im Mündungsgebiet des Stromes bis zur Haffmitte eine Fahrrinne, damit das sich in Bewegung gesetzte Eis freien Abzug hatte. Selbst im Haff mußten vielfach die Eisbrecher für die Schollen freie Abfuhr nach See schaffen. Auf diese Art wurden in den letzten Jahren die Überschwemmungen und auch der Schaktarp vermieden.
Notiz: Die Heuernte und Heuabfuhr Die Heuernte und Heuabfuhr
Wer auf einer alten Kulturkarte über Deutschland sein Augen nach dem Nordosten lenkte, der gewahrte bald, daß zwischen dem Memelstrom und der Stadt Memel das Memeldelta liegt. Dieses Memeldelta hat seine Besondere Geschichte. Delta bedeutet soviel wie flaches niedriges Land. Trotz des tiefen Geländes, zumeist Wiesen, haben sich an den höher gelegenen Stellen ganze Ortschaften gebildet, die sich neben etwas Ackerbau auf Viehzucht eingestellt hatten, weil die umherliegenden Wiesen reichlich Futter boten.
Dieses Delta zog sich am Memelstrom, der Flußmündung Atmath und dem Nebenfluß Minge entlang und umgab außerdem die Krakerorter Bank bis kurz vor Heydekrug. In der Nähe der Gewässer hatten die Wiesen ganz besonders hohe Erträge die für die Memelländische Viehwirtschaft von unschätzbarem Werte waren. Um die Erträge zu steigern, wurden mit Hilfe der Landesregierung die Wiesen eingedämmt und durch Kanalisation entwässert.
Seite 139
Immerhin blieben noch große Flächen die besonders niedrig lagen, die nur bei trockenem Sommer abgeerntet werden konnten. Solche Wiesen boten zumeist für die Sommerzeit keine Abfuhrmöglichkeit.
Mit Beginn der Heuernte- im Monat Juni – entstand auf den Straßen und den Wiesen ein reges Leben. Schon in den frühen Morgenstunden rollten Wagen auf Wagen mit arbeitsfrohen Menschen im bunten Durcheinander der Arbeitsstätte zu. Während die eine Fläche von der Mähmaschine abgegrast wurde, wurde eine andere Fläche am Vormittage gewendet und um die Mittagzeit mit dem Aufforken und zusammenbringen in Käpsen begonnen. Sobald die Tageswärme nachließ und der Schatten länger wurde, war die Zeit zum Beladen der Wagen gekommen. Die Wiesenwege wurden bis zur festen Landstraße von allen Beteiligten zu Fuß zurückgelegt. Nun durfte ein jeder den Heuwagen besteigen. Unter frohem Gekicher erschollen bald heitere Jugend-, Liebes-
Seite 140
und Heimatlieder durch die stille Sommernacht. An der das geplagte Herz oft mit Wehmut zurückdenkt.
Die zusammengebrachten Heumengen, die im Sommer keine Abfuhrmöglichkeit boten wurden in Diemen zusammengebracht, die gegen die winterliche Überschwemmung auf erhöhter Unterlage gebracht werden mußte. Die Abfuhr erfolgte dann im Winter bei guter Schlittbahn. Ich selbst habe in meiner Kinderzeit eine solche Abfuhr auch zur Winterzeit mitgemacht. Mein Vater hatte eine größere Parzelle der über den toten Arm der Atmath gelegenen zweischnittigen Wiese auf Werder gepachtet, deren Heu zur Sommerzeit des toten Flußarmes wegen nicht abgefahren werden konnte. Als das trockene Heu in Haufen zusammengebracht war, wurde eines Tages das Unterbaumaterial für die Dieme mit dem Fuhrwerk bis nach Minge gebracht und im Kahn beladen. An einer passenden Stelle wurde das Pferd im Schwimmen mit hinüber genommen, das die Haufen
Seite 141
zur Dieme zusammenschleppte.
Im Winter, wenn das Wetter günstig war und die Eisflächen überall Sicherheit bot, ging die Fahrt mit einer Anzahl Schlitten über das Dorf Minge, dem Fluß Minge, der Atmath und über den toten Arm zur Abfuhrstelle. Da die Landwege nicht besonders günstig waren ging der Rückweg nach Übernahme der Last über den toten Arm, die Atmath-Mündung entlang um die Windenburger Ecke und dann der Haffküste entlang nach Hause. Da selbst schwere Lasten auf dem glatten Eise im guten Trapp fortbewegt werden können, kamen alle Heuschlitten in den frühen Nachmittagstunden wohlbehalten zu Hause an. Nicht immer ist die Abfuhr so einfach. Schwere Schneeverwehungen, ausgefahrene Wege bringen die beladenen Heuschlitten leicht zum Kippen, doch mit Manneskraft und Pferdeantrieb wird solch ein Unglück meist bald wieder behoben.
Notiz: Die Kurische Nehrung Die Kurische Nehrung
Die Nehrung, das Italien des Nordens zieht sich in Nord-Südlicher Richtung bis unmittelbar vor der Stadt Memel, wo es durch das Memeler Tief eine Verbindung mit der Ostsee hat. Dieser Landstreifen besteht aus feinem gewaschenem Seesand und ist zum Teil bewaldet, zum Teil künstlich befestigt und bepflanzt. Die Nehrung trennt das Haff von der Ostsee und ist etwa 100 km lang. An der Seeseite ist ein Schutzwall errichtet und zum größten Teil mit Strandhafer bepflanzt. Die Nehrung zwischen See und Haff beträgt 0,5 bis 3 km. Zwischen der an der Haffseite sich hinziehenden Düne und dem Schutzwall zieht sich eine gut befahrbare Landstraße (Poststraße) hin, die auch von der Preußenkönigin Luise im Jahre 1807 auf ihrer Flucht nach Memel benutzt worden ist. Seit aller Zeit haben sich die kurischen Fischer auf dieser Landzunge niedergelassen, die noch heute die Kurische Sprache beibehalten haben und ihrem Berufe nachgehen, soweit sie nicht von der Ausweisung betroffen worden sind.
Seite 143
Zwei dieser Fischerdörfer, Schwarzort und Nidden sind zu weltbekannten Badeorten emporgeblüht und wurden nicht nur von deutschen sondern auch recht viel von ausländischen Badegästen und Künstlern, ganz besonders von Malern aufgesucht. Vom Badeort Nidden wird ein Kurprospekt der Chronik beigeschlossen, aus dem alles Nähere ersichtlich ist. Badeort Schwarzort hat ebenfalls herrliche Anlagen und vornehme Kurhäuser aufzuweisen. Vor etwa 70 Jahren (1882) wurden hier an der Haffküste große Bernsteinbaggereien in Naßbetrieb mit gutem Erfolg durchgeführt. An diesen Arbeiten hat auch mein Vater in den ersten Jahren seiner Ehe teilgenommen.
Bei Rositten, Preil und Perwelk wurden die Dünen, deren Sand vom Winde hin und her geweht wurde in den Jahren 1901- 1910 von Arbeitern und Arbeiterinnen durch Befestigungsarbeiten gesichert. Die Regierung hat hierzu die Mittel zur Verfügung gestellt. Quer über den Dünen wurden in gerader Linie 2 Meterquadrate mit Strauchwerk oder Schilfrohr zaunähnlich abgesteckt und und in jedem
Seite 144
Quadrat 9 etwa 2jährige Bergkiefern angepflanzt, die sich gut entwickelten.
In Nidden befindet sich auch ein Leuchtturm auf der hohen Düne, der für die Schiffer und Fischer als Wegweiser dient. Außerdem ist hier an der Seeküste eine Rettungsstation zur Rettung von Schiffbrüchigen und Seenot eingerichtet. Bei stürmischen Wetter wird die See vom Leuchtturm aus unablässig überwacht. Die ganze Nehrung war vom deutschen Reiche aus zum Naturschutzgebiet erklärt. Die sonst in der Welt kaum noch anzutreffenden Elche waren hier beheimatet und konnten sich ungestört entwickeln. Etwa 3 km der Nehrungsdüne blieben bis zu unserer Austreibung (Okt. 44) noch unbefestigt.
Segelflieger von Memel und dem Reichsgebiet führten von den Sanddünen bei Perwelk ihre Segelflüge aus.
Alte Berichte geben von der Dünenwanderung Kunde. Ein Fischerdorf südlich von Schwarzort, das Negeln hieß wurde mit den dort vorherschenden Westwinden vollkommen verschüttet. An der Stelle
Seite 145
fällt die Sanddüne heute steil in das Haff hinein. Der vormalige Niddener Friedhof wurde vollkommen freigelegt, so daß die Totengebeine zum Vorschein kamen.
Einzig in der Welt wirken die kahlen Sandberge bewundernd für das menschliche Auge. Von den Bergkuppen, besonders bei Nidden überschaut der Mensch die Wunderschöpfungen Gottes. Auf der einen Seite die grüne Ostsee. Auf der Ostseite das blaue Haff und auf dem Landstreifen die malerische Landschaft des Badeortes mit dem Elchrevier in der Weite des bewaldeten Teiles der Nehrung.
Einige Kilometer nach Süden befand sich auch die weltbekannte Vogelwarte von Rositten, an der Professor Tienemann lange Jahre mit gutem Erfolge gewirkt und den Vogelflug und Zug hinreichend erforscht hat.
Die letzte Ortschaft im Süden der Nehrung ist Cranz. Er hatte mit Königsberg Pr. Bahnverbindung. Der nördlichste Ort war Sandkrug. Er bot den Bewohnern der Stadt Memel besonders
Seite 146
Text zum Bild :
Verlassen des Hotels „Königin Luise“. Hier hat die Königin Luise 1807 auf der Flucht nach Memel übernachtet und in der Fensterscheibe geschrieben:
Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
wer nie die kummervollen Nächte
auf seinem Bette weinend saß
der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.
Seite 147
im Sommer einen angenehmen und schattigen Aufenthalt, und stand mit der Stadt in ständiger Dampf-Fähranbindung.
Im Sommerhalbjahr wurde die Post den Badeorten und den Fischerdörfern mit den Bäderdampfern täglich befördert. Diese Routine ging von Memel bis Cranz und zurück. Im Winterhalbjahr ging die Postkutsche per Wagen oder Schlitten, je nach den Wegeverhältnissen die Poststraße entlang bis Schwarzort und von hier nach Memel.
Bei guten Eisverhältnissen ging die Schlittenpost über das Haff von Nidden über Preil und Perwelk nach Schwarzort.
Notiz: Rückschau im Allgemeinen Rückschau im Allgemeinen
Wenn meine Heimat, das einstige Memelgebiet auch nicht im sonnigen Süden, wo die Zitronen blühen, oder in eis- und schneebedeckten Einöden von Grönland lag, so war es doch ein überaus liebliches Plätzchen auf Gottes Erdboden,
Seite 149
das auch meine Wiege getragen hat, wo liebende Eltern auch mich in sorgloser Kindheit heranreifen ließen und ein Nest der Geborgenheit auch mir geboten haben.
Es waren nicht kahle Felsen und auch keine Einöden, die sich in meine Erinnerung prägten. Es war vielmehr eine Heimat mit blühenden, wogenden Kornfeldern mit Land verwurzelten strebsamen Bauern und wetterfesten und zielstrebenden Fischern. Es lebte dort ein harter Schlag von Menschen, die jedoch in Gottesfurcht und Ehrerbietung ihr Leben in Zufriedenheit hinbrachten.
Dort habe ich mit meiner von Gott zugeführten Gehilfen 25 Jahre in Gemeinsamkeit verlebt und mit ihr Freud und Leid geteilt. Unserer Ehe blieben durch Gottes Güte 3 Kinder erhalten, die sorgenlos und allzeit gesättigt ihre sonnigen Kinderjahre verlebten. Beide Söhne auch noch ihre beruflich Ausbildung, der ältere als Schmied und der jüngere als Drogist erhalten haben.
Seite 150
Da der zweite Weltkrieg 1939/45 noch immer große Opfer forderte, wurde der ältere 1942 auch zum Kriegsdienst einberufen. Trotz der Kriegsfurie lebten wir bis 1944, da auch der jüngere Sohn Soldat werden mußte unbehelligt. Doch als unsere Wehrmacht bei Stalingrad in Russland eine schwere Niederlage erlitt und darauf immer mehr nach der Heimat zurückgedrängt wurde, kam über uns eine Leidenszeit. Am 8. Oktober waren wir aufgefordert die Heimat bis 9 Uhr zu verlassen. Es war ein wehmütiger und überstürzender Abschied für immer. Die Bauern versuchten in aller Eile noch mit ihren Fuhrwerken mit den nötigsten Habseligkeiten zu entkommen, denen auch vielfach glückte, andere vertrauten ihre Kleinigkeiten den vom Bürgermeister gecharterten Wehrmachtsfahrzeugen an, von denen nur einige noch durchgekommen sind. Während meine Frau und Tochter schon am 8. Oktober auf die Reise ins unbekannte Land geschickt wurde, begab
Seite 151
ich mich selbst mit anderen Fluchtgenossen am dämmernden Morgen das 10. Oktober mit einem Fischerkahn von Windenburg aus ins Ungewisse, wo wir nach achtstündiger Fahrt bei gutem Wind in Rinderort bei Labiau landeten. Durch Zufall konnte ich in Labiau zur Frau und Tochter stoßen. Den weiteren Werdegang der Flucht siehe Seite 71 usf. dieser Chronik.
Viele heimatlichen Füchtlinge murren heute über ihr Schicksal und nehmen das nicht als Gottes Schickung. Hat nicht auch das Volk Israel ein ganzes Menschenalter nach Babylon in die Verbannung gehen müssen. Ebenso sprach Gott zum Erzvater Abraham – Gehe aus deinem Vaterlande und aus deiner Freundschaft in ein Land das Ich dir zeigen werde - . Abraham glaubte dieser Verheißung und zog von dannen ohne murren. Wie hat ihn doch der Allmächtige an seiner neuen Wirkungsstätte gesegnet. Wir wollen unsere Ausweisung gleich den Leuten des alten Buches
Seite 152
aus Gottes Hand nehmen, denn wir können mit unserem kleinen Verstand nicht ermessen was der Herr mit uns oder unseren Nachkommen noch vor hat.
Eines aber wissen wir, daß der der Wolken, Luft und Wegen Lauf und Bahn weiß, der wird auch wissen, wie er uns weiterführen soll.
Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt ihn wohl;
das macht die Seele still und friedevoll.
Ist es doch umsonst- daß ich mich sorgend müh,
daß ängstlich schlägt das Herz, sei´s spät, sei´s früh.
Du weißt den Weg ja doch, du weißt die Zeit,
dein Plan ist fertig schon und liegt bereit.
Ich preise Dich für deiner Liebe Macht,
ich rühm die Gnade, die mir Heil gebracht.
Du weißt, woher der Wind so stürmisch weht,
und du gebietest ihm, kommst nie zu spät;
drum wart ich still, dein Wort ist ohne Trug,
Du weißt den Weg für mich,- das ist genug.
Von Hedwig von Redern 1866-1935
Notiz: Der Wächter von Szillen Der Wächter von Szillen
Über die Zukunft Deutschlands und somit auch unserer Heimat berichtete schon 1910 der Nachtwächter von Szillen, Ostpr. von einem in jener Zeit wiederholt erscheinendem Nachtgesicht, mit dem er eine Zwiesprache hatte.
Diese Begegnung soll der Wahrheit entsprechen und das Zwiegespräch einige Zeit darauf in Reime gefaßt worden sein, die wie folgt lauten:
Der Wächter von Szillen
1.) Der Wächter von Szillen blies Mitternachtstund
Da trat ein kleines Männlein aus dem Schattengrund
"Pfeiff dreizehn!" es sprach und ließ ihm keine Ruh.
Es kam jede Nacht und bat immerzu.
Und als er geblasen zum dreizehnten mal,
drei Särge standen vor ihm im Nebelstrahl.
2.) Der erste, der war vom Blut so rot.
"Ach kleines Männlein, sag, deutet das meinen Tod?"
"Ach Wächter, dein Blut, das füllt ihn nicht.
Das ist das Blut von vielen tausend Reiterlein
Die müssen nach Russland und Frankreich hinein.
Das ist das Blut von tausend Frauen und Knaben
Die werden die Füchse und Krähen begraben."
3.) Der zweite, der war voll Wasser rein.
"Ach Männlein, soll das ein böser Schaktarp sein?"
"Ach Wächter, Memelwasser ist im Frühling kalt wie Eis,
das rinnt nicht so bitter, so salzig und so heiß.
Das sind der Witwen Tränen um das verlorene Gut,
um das blökende Vieh, das auf der Strasse stirbt.
Um den Weizen, den der Feind in den Scheunen verdirbt."
4.) Der dritte war so leer, darin war nicht zu sehen,
Kein Leichentuch, kein Kissen von Sägespän,
"O, kleines Männlein, sage, wer soll denn da hinein?"
"Das wird der ganze Wohlstand eines Landes sein:
Was lebenslang ihr schafftet mit Fleiß und Sorg' und Treu,
Und dein Hof und dein Gut, die sind auch dabei,
Und dein Sohn ist dabei. Und du wirst sein Grab nicht sehn,
Und du selbst wirst heimatlos nach Westen betteln gehn."
5.) Der Wächter von Szillen fiel auf sein Angesicht,
Er rief den Herrgott an; die Särge schwanden nicht.
Er sprach das Vaterunser und betete und rang;
Das Männlein ward ein Riese, dem vom Munde die Flamme sprang.
Da sah er auf vom Boden und faltete die Hand:
"Gib, daß ich's freudig gebe für's Vaterland!"
Da klangen hell die Glocken vom nahen Kirchelein,
Und über Dach und Wiesen glitt der Mondenschein.
Notiz: Die letzte Weihnachtsfeier in der Heimat (1943) Die letzte Weihnachtsfeier in der Heimat (1943)
Alljährlich, wenn das Christfest nahte, war es Brauch nicht nur die Wohnung zuzubereiten und den Christbaum zu schmücken, sondern auch die Herzen als Dank gegen Gott zuzurüsten. Schon Wochen vorher wurden Weihnachtslieder unter dem Adventskranz angestimmt und musiziert. Die Hausfrau hat zu dieser Feier in der Küche alles aufs Beste zubereitet. In den Amtsräumen war um 3 Uhr Dienstschluß. Die Säuberung der Räume sollte bis kurz vor 4 Uhr beendet sein, damit anschließend ein gemeinsamer Kirchgang zur Christfeier erfolgen konnte. Nach der Rückkehr holte ein jeder die dem Nächsten zugedachte Gabe hervor und legte sie unter den Christbaum. Inzwischen war auch der Sohn Ernst, der in Heydekrug im letzten Lehrjahre stand eingetroffen. Auch er hatte sich die größte Mühe gegeben die Eltern und die Schwester mit Gaben zu erfreuen. (Leider war das auch seine letzte irdische Weihnachtsfeier, denn im Oktober des folgenden Jahres wurde er als Soldat von seinen Kameraden
Seite 156
zur letzten Ruhe gebettet)
Nun war die Zeit zur Familienfeier gekommen, wozu auch die Mitarbeiter und der im Hause wohnende Bruder und Frau gebeten waren. Während alle ihre Plätze eingenommen haben, wurden die Christbaumkerzen angezündet. Es herschte in diesem Augenblick eine feierliche Stille im Raum, während sich der Ernst am Harmonium setzte. Mit dem bekannten Weihnachtsliede „Stille Nacht, heilige Nacht“ wurde die Feier eröffnet. Anschließend wurde die Weihnachtsgeschichte verlesen und ein kurze Ansprache gehalten, die etwa wie folgt lautete:
Meine lieben Hausgenossen, liebe Mitarbeiter, zum 5. Male während dieses Krieges sammeln wir uns unter dem Christbaum und feiern, wenn an den Fronten bitter um die Heimat gekämpft wird, auch in diesem Jahre das liebe Christfest in geborgener Ruhe. Wir können dem Gnädigen danken, daß er uns dieses Fest in Gemeinsamkeit erfahren läßt.
Seite 157
Zwar sind wir nicht mehr wie in den Vorjahren alle beieinander, denn unsere Kinder Hans und Kurt zählen sich heute zu den unendlichen Scharen, die das Vaterland verteidigen. Alle die, die der Heimat fern sind, weilen zu dieser Stunde mit ihren Gedanken bei ihren Lieben in der Heimat. Gott schenke uns Gnade, daß wir das nächste Weihnachtsfest wieder alle gemeinsam und in stillem Frieden feiern mögen.
Nachdem allen gesegnete Tage und eine geruhsame Nacht gewünscht war und jeder die zugedachte Gabe in Empfang genommen hatte war die Familienfeier mit einem Schlußliede beendet und die Angestellten entlassen, damit sie mit ihren Angehörigen daheim die Feier fortsetzen konnten.
Die vorangegangenen Christfeiern wurden in ähnlicher Weise begangen, die den Kindern und den nicht uns Zugehörigen in steter Erinnerung bleiben werden.
Gott der Herr schenke uns die rechte Erkenntnis, daß er seinen Sohn uns zur Erlösung in die Welt gesandt hat.
Notiz: Eine Schlittenpartie nach Schwenzeln Eine Schlittenpartie nach Schwenzeln
Im Winter, wenn Flur und Wald und Wiesen von tiefen Schnee bedeckt sind und die Natur ihren Winterschlaf hält, wenn der gestrenge Regent die herrlichsten Blumen an die Fensterscheiben malt und das Quecksilber des Thermometers im Kolben zusammenzieht, wenn der wärme ausstrahlende Kachelofen im Zimmer einen angenehmen Aufenthalt bietet dann luden Sonn- und Festtage zu Besuchsfahrten ein.
Das beigegebene Bild zeugt von solch einer Besuchsfahrt, die nach Schwenzeln durchgeführt wurde.
Seite 159
An einem schönen hellen Wintersonntag haben wir uns nach dem Mittagessen aufgemacht in Woll- und Pelzsachen gepackt und dann per Schlitten unter hellem Schellengeläut über Wald- und Feldwege hinaus in die Ferne gemacht. Ein sehnlicher Wunsch der Kinder war damit in Erfüllung gegangen. Im munteren Trapp zweier flinker Rappen waren wir in kaum einer Stunde am Ziel. Nach freundlicher Begrüßung wurde alsbald für einen erfrischenden Kaffeetrunk gesorgt und als Imbiß der übliche Besuchskuchen gereicht.
Nach einem reichen Gedankenaustausch entschwanden die Nachmittagsstunden gar schnell und die nahende Dämmerung mahnte zum Abschied. Fröhlich wurde der wartende Schlitten bestiegen. Mit Abschiedsgrüßen und Winken wird die Pelzdecke noch ordentlich geklemmt und als wir zu Hause anlangten da meinten die Kinder, der Weg sei nur kurz gewesen.
Notiz: Eisgang auf dem Haff Eisgang auf dem Haff
Gestrenge Winter, die viel Schnee mit sich gebracht haben und die keine Tautage aufzuweisen hatten, im Frühjahr bei plötzlichem Tauwetter gewöhnlich mit einer Katastrophe herein. Man hat die Beobachtung gemacht, daß am Abend das Eis noch in Winterlage stand und Fischer und Fischhändler von ihrer Betätigung zurückkehrten, so daß man nichts zu befürchten meinte. Solch ein Bild bot jedoch der folgende Morgen.
In früher Morgenstunde ging die Kunde durch den Ort: das Haff ist bei dem Nachtsturm in die Brüche gegangen und wir haben Eisgang. Der Südweststurm hat den Festlandstrand blockiert. Die nicht in Sicherheit gebrachten Fischerkähne sind mit den Eisschollen zum Teil zu Lande geschoben und zerbrochen, zum Teil mit Schollen überladen. Der größte Teil der zerborstenen Schollen des Haffeises und des in das Haff hinaufgeführten Flußeises wandert mit der Strömung bei Memel in die Ostsee.
Eine solche plötzlich aufgekommene Katastrophe wirft nicht nur viele Vorhaben der Fischer und Anwohner
Seite 161
über den Haufen, sondern verursacht des öfteren auch einen unübersehbaren Schaden. Beigegebene Bilder des Frühjahrs 1941 zeugen von solch einer Wucht des Eisganges
Seite 162
Als Bürgermeister der Gemeinde Kinten überzeugte ich mich von den in der Sturmnacht angerichteten Verwüstungen.
Die Eisschollen, die sich bis zur Mitte der hohen Kiefernstämme des Kintener Waldes hinaufgeschoben hatten, hatten alles was vor dem Strande lag mitgenommen oder unter sich begraben. Ein großer, neuer im Jahre zuvor erbauter eichener Fischerkahn war nahezu zu den Baumkronen hinaufbugsiert, dabei war ihm eine Seite vollkommen aufgerissen. Andere Fahrzeuge waren entweder völlig verschüttet oder demoliert. Der Erdboden war an verschiedenen Stellen mächtig aufgewühlt und die in der Einfahrt gerammten Pfähle wie Streichhölzer abgeknickt.
Solch plötzlich einsetzendes Tauwetter mit Sturm wirft viel Schlamm, Bruchholz und Unrat auf die Anwurfwiesen. Die Eigentümer haben in Frühjahr ihre liebe Mühe um dieses Alles wieder zu räumen. Über die bei solcher Sturmflut verursachten Überschwemmungen verweise ich auf den Artikel „der Schaktarp“.
Notiz: Der Verkehr zur Winterszeit Der Verkehr zur Winterszeit
Meine Heimat, das Memelgebiet, das im nordöstlichen Teil unseres einstigen Vaterlandes lag, hatte zumeist mit harten Wintern, großen Schneeverwehungen und starken Frösten zu rechnen. Kälteperioden bis zu 40°C waren keine Seltenheiten. Der Sommer war in der Regel kurz aber heiß, so daß in wenigen Monaten die Ernte heranreifte und eingebracht werden konnte. Diese Tatsache zwang die ländliche Bevölkerung zur Schaffung von hinreichendem Vorrat für Mensch und Vieh. Im allgemeinen mußte damit gerechnet werden, daß das Vieh vor Anfang Juni nicht auf die Weide kommt und im Oktober für den nächsten Winter wieder eingestellt werden muß.
Der Westen und Süden des einstigen Reiches hat einen Schlitten zur Winterszeit kaum gekannt. Der Memelländer mußte dagegen jenen Sinnspruch im wahren Sinne des Wortes beherzigen, wo es heißt: „ In Sommertagen rüste den Schlitten und deinen Wagen in Winters mitten!“ Meist ist
Seite 164
es dort so, daß der Wagen auf 5 Monate (Nov. bis März) durch den Schlitten abgelöst wird. Zur Winterszeit ist im Osten der sibirische Ostwind dort vorherschend, der bei guter Schneelage ein unangenehmes Stimmwetter hervorzuzaubern vermochte. Wenn solch ein Wetter tagelang getobt hatte, wurde auch der Schlittenverkehr auf vielen Straßen lahmgelegt. Diese Hindernisse ließen sich jedoch umgehen, indem neue Wege über Gärten und Zäune, über Wiesen und Äcker gebahnt wurden. Große und kleine zu festen Brücken gewordenen Gewässer wurden in solchen Zeiten mit Vorliebe benutzt. Dem Kraftwagenverkehr ist natürlich bis zur Räumung der Straßen halt geboten.
Das Schneetreiben, das besonders auf den ungehinderten weiten Flächen des Haffeises bei beißender Kälte dem Schlittenlenker jede Sicht und Wegspur nahm, war besonders empfindlich. Zwar wurde alljährlich bei genügender Festigkeit des Eises von Seiten der Regierung dafür Sorge getragen, daß zu den verbindenden
Seite 165
Ortschaften Wege durch Eispflanzungen von Kiefer- oder Fichtenstämmchen Fahrwege markiert wurden. Die Entfernung von einem Merkzeichen zum anderen betrug etwa 500 m. Bei sichtigem Wetter hat solche Wegmarkierung auch dem unkundigsten Fahrer zum rechten Ziele geführt. Fischer und Fischhändler, die auf Fang ausfahren und den Fischzügen nachgehen, können sich nicht an die abgesteckten Wegstrecken halten und haben bei ihrer Arbeit, besonders bei unsichtigem Wetter unter sich das ewige Eis und über sich den bedeckten Himmel. Wenn der Abend hereinbricht und durch Schneetreiben jede Sicht genommen ist, dann bleibt nur noch die am Tage wahrgenommene Windrichtung als Wegweiser. Die völlige Dunkelheit hat schon viele Fischer und Schlittenfuhrleute auf einer solchen Eiswüste irregeführt.
So berichtete u.a. der Fischhändler Jakob Waitschies aus Kinten, daß er an einem Abend durch aufgekommenem Stimmwetter seinen Weg und Kurs nach Hause hin, völlig verloren habe.
Seite 166
Er glaubte in nordöstlicher Richtung den Kurs eingeschlagen zu haben und dachte etwa um 10 Uhr abends sein Anwesen zu erreichen. Nach ungeahnt langer Nachtfahrt mußte er bei Tagesanbruch feststellen, daß er genau den entgegengesetzten Kurs gefahren war, da er bei dem Fischerdorf Pillkoppen landete.
Er selbst und sein braves Tier waren von der angestrengten Nachtfahrt bei eisigem Frostwetter übermüdet und unfähig sofort die Heimfahrt anzutreten. Im übrigen hatte er mit seiner Ladung den erwünschten Markt sowieso versäumt.
Solche und ähnliche Irrfahrten sind auf den weiten Flächen des Haffeises oder auch auf weithin überschwemmten und zugefrorenen Wiesenflächen oftmals vorgekommen.
Notiz: Ein Wort von Ernst Moritz Arndt, geb. auf Insel Rügen in dem Städtchen Garz Ein Wort von Ernst Moritz Arndt, geb. auf Insel Rügen in dem Städtchen Garz
Wo dir die Sonne zuerst schien,
wo dir die Sterne des Himmels zuerst leuchteten,
wo seine Blitze dir die Allmacht offenbarten und
seine Sturmwinde dir mit hellen Schrecken durch die Seele brausten,
da ist deine Liebe, da ist dein Vaterland.
Wo daß erste Menschenauge sich liebend über deine Wiege neigte,
wo deine Mutter dich zuerst mit Freuden auf ihrem Schoße trug
und dein Vater dir die Lehren der Weisheit ins Herz grub,
da ist deine Liebe, da ist dein Vaterland
|